Geldanlage, unterdurchschnittliche Renditen und der Zweite Weltkrieg – Wie der Survivorship-Bias Entscheidungen von Anlegern und Investoren beeinflusst

Erschienen im Standard, am 8. Juni 2021

Experten, Medien, Ökonomen, Newsletter-Verfasser, Gurus und etliche mehr werden nicht müde, vor den nächsten Einbrüchen und Korrekturen an den Börsen zu warnen. Und tatsächlich, früher oder später werden die Kurse auch wieder sinken. Diejenigen, die Kurskorrekturen über die Jahre immer wieder prophezeiten, werden dann auch einmal recht bekommen. Dies liegt in der Natur der Sache. Sie brauchen sich vor Kurskorrekturen jedoch nicht zu fürchten, da auf fallende Kurse wieder steigende folgen und man mit Wertpapieren dafür verglichen mit anderen Anlageformen ausreichend entschädigt wird – nämlich in Form höherer Renditen. Die Belege, die gegen diese Market-Timing-Strategien und aktives Handeln sprechen, sind überwältigend. 70 bis 96 Prozent dieser Strategien, die in hoher Anzahl von Banken, Finanzinstitutionen, Investmentfonds und ähnlichen Produkten vertrieben und verfolgt werden, erzielen unterdurchschnittliche Resultate.

Blick durch die getrübte Linse

Über die letzten zwanzig Jahre erwirtschaftete der durchschnittliche Anleger rund zwei Prozent Rendite, bei einem Durchschnitt von acht Prozent, die Aktien insgesamt erzielt hätten. Diese große Differenz lässt sich mit dem Verhalten der Anleger erklären. Sie tendieren dazu zu kaufen, wenn die Märkte sehr gute Erträge erbringen, und zu verkaufen, wenn Märkte sehr schlechte Renditen erzielen. Das betrifft die unterschiedlichsten Aktienmärkte weltweit sowie auch einzelne Aktien. Menschen werden auch aufgrund der Medien dazu verleitet, der Masse zu folgen und geben ihren Versuchungen nach, weil sie Schlagzeilen lesen wie “Gewinne sollten jetzt mitgenommen werden”. Sie kaufen bei steigenden Kursen (Bullen-Märkten) und verkaufen bei fallenden (Bären-Märkten). Das kann sehr kostspielig für die Anleger sein, bedeuten doch einige Prozentpunkte weniger über die Jahre hinweg aufgrund des Zinseszinses ein Vielfaches weniger an materiellem Wohlstand.

Die unterdurchschnittlichen Renditen lassen sich auch darauf zurückführen, dass den Anlegern und Investoren nur ein verschwommenes Bild ihrer Situation oder der Finanzindustrie gezeichnet wird. Das hat auch mit der mangelnden Unabhängigkeit der Menschen zu tun, die in dieser Branche arbeiten. Viele Veranlagungs- und Vermögensberater offerieren Produkte, weil sich diese gut verkaufen, nicht aber, weil es sich dabei um die besten für ihre Klienten handelt. Sie tun dies entweder, weil sie nicht wissen, dass es sich um schlechte Fondsprodukte oder die falschen Strategien handelt. Also unabsichtlich, da sie daran glauben oder es ihnen an entsprechender Bildung fehlt. Oder sie verkaufen ihnen diese schlechteren Produkte bewusst, obwohl sie wissen, dass diese Produkte nicht die besten Leistungen erbringen. Sie bestreiten ihren Lebensunterhalt mit diesen Produkten und sind so von ihrem Verkauf abhängig – beides wichtige Ausschlusskriterien für die Geldanlage und Vermögensveranlagung.

Anlageformen und Verhaltensverzerrungen

Private Equity und Venture-Capital sind Anlageformen, die gerade in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewannen. Viele bekannte Unternehmen wie Amazon und Facebook sind aufgrund von Venture-Capital-Investments (Risikokapital) entstanden. Das verhalf alternativen Anlageformen zu weiterer Popularität. Venture-Capital-Gesellschaften sehen sich jedoch mit einer Situation konfrontiert, in der von 4.000 Start-ups lediglich 200 (fünf Prozent) für Investitionen infrage kommen. Von diesen 200 generieren jedoch nur 15 mehr als 95 Prozent der Renditen. Diese enorme Schwankungsbreite ist es auch, die Venture-Capital so riskant macht.

Über die letzten Jahre hätte man mit Venture-Capital-Fonds eine Rendite von 13,4 Prozent pro Jahr erzielt. Der S&P 500 (der weltweit führende Vergleichsindex) erzielte 12,4 Prozent und der kleinere S&P Small-Growth 14,4 Prozent. Die Erfahrung zeigt, dass mit Venture-Capital eine hohe Volatilität (Schwankungsbreite), Illiquidität und das Risiko der Survivorship-Verzerrung (sprich eine Verhaltensverzerrung) verbunden sind. Lediglich 60 bis 70 Prozent der Venture-Capital-Fonds haben eine Lebensdauer von mehr als zehn Jahren. Was konkret ist aber dieser Survivorship-Bias (sprich Überlebensirrtum), und was hat er mit der Geldanlage zu tun?

Flugzeuge und Einschusslöcher

Verhaltensverzerrungen sind für die zuvor beschriebenen unterdurchschnittlichen Resultate der Anleger und Investoren verantwortlich. Im selben Maße wie sie sich schleichend bemerkbar machen, nimmt man auch von einem schlechten Vermögensmanagement über die ersten Jahre zunächst nicht viel wahr. Über mehrere Jahrzehnte kann sich eine schlechte Vermögensverwaltung jedoch erheblich bemerkbar machen. Die erläuterte Survivorship-Verzerrung (eine von vielen Verhaltensverzerrungen der Anleger und Investoren) ist vor allem aufgrund von Ereignissen aus dem Zweiten Weltkrieg bekannt.

Man verstärkte bei Kampfflugzeugen anfänglich vor allem die Stellen der Flugzeuge, die die meisten Einschusslöcher aufwiesen. Man stellte jedoch fest, dass die heimkehrenden Kampfflugzeuge mit den entsprechenden Einschusslöchern den Schaden verkraften konnten und gerade deswegen immer noch sicher nach Hause kamen. Daraufhin verstärkte man die Panzerung auf Flächen der Flugzeuge, die nicht von feindlichem Beschuss betroffen waren, da dies die Bereiche der Flugzeuge waren, aufgrund derer die Flieger nicht wieder zurückkehrten.

Survivorship-Bias an den Börsen

Unter Survivorship-Bias ist an den Finanz- und Kapitalmärkten zu verstehen, dass die Renditen der Fonds und anderer Anlageprodukte besser ausgewiesen werden, als sie tatsächlich sind. Das deshalb, da liquidierte, zusammengelegte und geschlossene Fonds aus den Datenbeständen herausfallen und so die Leistungen der verbliebenen Fonds verzerren. Somit zeigt sich nicht nur bei Venture-Capital diese Verzerrung, sondern auch bei Wertpapieren und Fonds, in die Anleger investieren. Investmentfonds, die eine anhaltende Underperformance aufweisen, also unterdurchschnittliche Renditen erzielen, werden häufig geschlossen, und zwar nicht nur für neue Investoren, sondern generell.

In einer Studie über die Auswirkungen des Survivorship-Bias auf die Statistik von Investmentfonds untersuchten Forscher über 2.000 Investmentfonds, die über einen Zeitraum von 15 Jahren hinweg geschlossen wurden. Es war nicht überraschend, dass der Hauptgrund für ihre Schließung eine Underperformance war. Die Forscher untersuchten dann die überlebenden Fonds im selben Zeitraum und stellten fest, dass in nahezu jeder Kategorie, einschließlich aller wichtigen Märkte, aktiv verwaltete Fonds hinter dem Index zurückblieben. Sobald die geschlossenen Fonds wieder in die Statistik aufgenommen wurden, wurde die Underperformance noch schlimmer.

Was bedeutet dies also? Nun, die Fonds, die unterdurchschnittliche Renditen erzielen, werden aus Datenbanken entfernt, anhand derer die Anleger Entscheidungen treffen. Der Survivorship-Bias erweckt den Anschein, als ob die Fonds, die häufig die schlechteste Performance in der jeweiligen Gruppe erzielten, überhaupt nicht existierten. Daraus resultiert für die Anleger, dass Investmentfonds hinter ihrem jeweiligen Referenzindex zurückbleiben. Da viele Anleger jedoch den Survivorship-Bias erst gar nicht kennen, sind sie sich darüber nicht im Klaren, dass die Daten den Grad der unterdurchschnittlichen Fonds der Banken und Kapitalanlagegesellschaften nicht einmal vollständig wiedergeben.

Nicht nur die Geschichten der Sieger

Survivorship-Bias bezieht sich somit auf die Idee, dass wir eine falsche Darstellung der Realität erhalten, wenn wir uns nur auf die Erfahrungen derer stützen, die “leben”, um ihre Geschichte zu erzählen. Ein Blick darauf, wie die Flieger des Zweiten Weltkriegs die Ingenieure anfänglich täuschten, zeigt, wie Überlebensverzerrungen uns die Realität in anderen Situationen falsch vor Augen führen. Demnach führt das Nichterkennen des Überlebensbias zu fehlerhaften Entscheidungen. Wir sehen das große Ganze nicht und optimieren am Ende ein kleines Stück der Realität. Wir können diese Verzerrung nicht vollständig überwinden. Das Beste, das wir tun können, ist, uns dessen bewusst zu sein. Wenn der Einsatz hoch oder das Ergebnis wichtig ist, halten Sie inne und suchen Sie nach den Geschichten derer, die keinen Erfolg hatten. Sie haben uns genauso viel, wenn nicht sogar mehr zu lehren. Wenn Sie das nächste Mal das Risiko einschätzen, fragen Sie sich: Schenke ich den zurückgekehrten Fliegern zu viel Aufmerksamkeit und den nicht zurückgekehrten nicht genug? (Bernhard Führer, 8.6.2021)